“Das Lehrstück aus der Subjektive”, Werner Waas

Februar 2015, Villa Vigoni, ein Impulsreferat

Liebe Seminarteilnehmer,

mein Vater war Lehrer. Meine Mutter auch. Ich habe ein Pädagogentrauma. Wenn ich eine Schule betrete, habe ich noch heute ein ungutes Gefühl. Wenn Brecht in seinem Text zur Theorie der Pädagogien vom „Nutzen für den Staat […] durch den werdenden Bürger“ spricht1, bekomme ich Gänsehaut. Die Universität habe ich nach der Zwischenprüfung abgebrochen, weil ich ein Sinnproblem hatte mit dem Gelehrten. Ja, und jetzt stehe ich da und soll meine Meinung zum Lehrstück sagen.

Ich habe keine kohärente Meinung zum Lehrstück.

Brecht Camp, Turin (Foto: Portage)

Vor zwanzig Jahren habe ich mich an Der Jasager und Der Neinsager versucht, in Cagliari. Es ging mir darum mit den Schauspielschülern eine Theaterarbeit zu leisten, bei der sich nicht alles ums Theater dreht und wie man ein berühmter Schauspieler wird, sondern um die Wirklichkeit, um Haltungen, um ein draußen, das im Theater reflektiert werden sollte. Aber es gelang uns nicht in dem Text Wirklichkeit zu finden. Es war ein eher peinliches Scheitern, ohne Schönheit und auch ohne interessante Gedanken. Es war ein Gefühl wie in der Schule, wenn man etwas mechanisch übt, ohne zu wissen, worum es dabei wirklich geht, aber man macht es trotzdem, nur eben ohne Überzeugung. Wahrscheinlich ging es damals um fundamentale Denkfehler: Was ist Wirklichkeit? Was ist Leben? Was ist Theater? Was ist Haltung? Was ist Aktion?

Fünfzehn Jahre später arbeitete ich in Lecce an einem sehr utopischen Projekt, namens Manifatture Knos, das sich der Wiederentdeckung des Selbstgemachten verschrieben hatte. Eine ehemalige Fabrik, in der Handwerker und Geistesmenschen in engem Kontakt miteinander arbeiteten. Ich war dort mit Lea Barletti für den Theaterbereich zuständig und wollte in dem Zusammenhang das Theater und seine soziale Funktion neu erfinden und überprüfen, ohne den schützenden Schirm der Tradition. Unsere Spielzeit hatte den Titel „Wozu braucht es Theater?“ und ging von der These aus, dass, wenn keiner das Theater braucht, es wohl besser ist, wenn es verschwindet, als künstlich am Leben erhalten zu werden. Es gab dort einen Raum, den wir Theater nannten und den ich jeden Abend für zwei Stunden geöffnet habe, damit er seine Funktion als Spiegelraum des Tageswerks, als Forum sozialer Selbstbetrachtung ausüben könne. Was dort geschehen sollte, war allerdings niemandem so richtig klar. Ich habe bewusst darauf verzichtet Programm, Texte, Szenen anzubieten, weil mich ja interessierte, welchen Nutzen die kleine Gesellschaft, die wir darstellten, aus diesem Raum der Möglichkeiten zu schlagen wisse, welchen Defiziten des Lebens er entgegenkommen könnte. Also wurden dort manchmal Texte gelesen, Vorfälle des Tags auf der Bühne erzählt oder nachgestellt, manchmal haben wir gesungen, manchmal hatte auch ein Handwerker oder Künstler zuhause eine Szene geschrieben und sie dort vorgestellt, Wissenschaftler kamen auf die Bühne und haben versucht dem Publikum Theorien im Bereich der Nanotechnologie nahezubringen, meistens gab es einen Mix aus mehreren Elementen, natürlich auch viel Leerlauf, aber Sinn hatte dieses ‚Theater‘ für jene Minigesellschaft allemal.

Manifatture Knos (Foto:Maurizio Buttazzo)

Eins von den ‚Lehrstücken‘, darum handelte es sich nämlich meiner Meinung nach, für das Publikum und auch für mich, die sich dort abspielten, war als mein damals 8jähriger Sohn Rocco und sein Freund Ernesto zufällig auch mit von der Partie waren. Ich bat sie auf die Bühne zu gehen und von dort aus Fragen, die aus dem Publikum an sie gestellt wurden, zu beantworten. Es kamen Fragen zum Geld, zur Wirtschaft, zum Sinn von Arbeit, auf welche die beiden Jungen mit Ernsthaftigkeit und offener Ehrlichkeit antworteten, während sie sich auf der Suche nach einem eigenen Gedanken zu einem für sie unerwarteten Thema zusehen ließen, absolut entwaffnend.

Das war eins meiner interessantesten Theatererlebnisse, die dem Brechtschen Philosophen auf dem Theater sehr nahe kam.

Darauf aufbauend möchte ich gerne mit Ihnen zusammen hier ein Experiment durchführen. Ich habe meinen Beitrag „Die Lehrstücke aus der Subjektive“ genannt und möchte diese Subjektive gern möglichst ungeschützt über uns ergehen lassen. Deshalb wollte ich Sie bitten, mich während der Dauer meines Vortrags möglichst häufig zu unterbrechen und mir intelligente oder auch dumme Fragen zu stellen, auf die ich dann mit größtmöglicher Ehrlichkeit und Spontaneität Antwort zu geben versuche. Sollten keine Fragen von Ihnen kommen habe ich mir selber welche zurechtgelegt.

Glaubst du, dass die Welt heute über das Lehrstück beschreibbar ist?

In Berlin arbeite ich seit zwei Jahren in Nordneukölln in dem Verein ItzBerlin e.V., der in der theaterpädagogischen Schiene beheimatet ist und wo man versucht durch Theaterspielen mit Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, kulturelles Wachstum und eine Verbesserung des sozialen Kontextes zu bewirken. Dafür wird der Verein vom BaMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) gefördert. Leider muss ich feststellen, dass es für mich einfacher ist, besagte Ziele über einen Workshop in handwerklichen Tätigkeiten, z.B. Schreinern, zu fördern, als durch Theater. Es ist eine Welt, die fast ohne Sprache abläuft, eine Welt aus obsessivem Imponiergehabe, physischer Gewalt der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Eine Welt ohne Stille, ohne Konzentrationsvermögen, ohne Aufmerksamkeit, eine Welt ohne sichtbare Zeichen, zumindest für mich, der Liebe, der Zuneigung, der Behutsamkeit. Andrerseits ist es ein Fakt, dass wir praktisch nichts wissen von dieser parallelen Welt, zu deren kulturellen Sanierung wir mit massiven Investitionen von Seiten der Politik ständig aufgerufen werden. Unser Bild ist wertend und verurteilt ständig von oben herab eine Realität, die uns verstellt ist.

Meine Präsenz in diesem Rahmen als Künstler, der nichts besser weiß, dem diese Realität ins Herz schneidet, dem sie Angst macht, der sich nicht in irgendeinen behüteten Schutzraum zurückziehen will, sondern sich ständig aussetzt, ist ein ständiges gelebtes ‚Lehrstück‘, ohne Zuschauer, dessen Finale und auch Moral bis zuletzt ungewiss ist.

Konstruktion der Bühne im Hausergarten des Itz, Berlin Neukölln (Foto: Lea Barletti)

Was erwartest du dir von dieser Tagung für Deine Arbeit?

Ich erwarte mir von dieser Tagung nicht zuletzt auch Impulse, die aufzeigen, welche Art von Lehrstücken wir für unsre Welt brauchen. Meine Erfahrung zeigt mir, dass heute alles in streng geteilten Bereichen abläuft, es gibt keinerlei Durchmischung. Ich glaube nicht, dass ein Text, der auf einer rein inhaltlichen Ebene Verhaltensmodelle aufzeigt und untersucht, in so einem Rahmen wirklich greifen kann. Es müssen Rituale entwickelt werden, in denen Leute spielerisch zueinander kommen, ohne Lehrauftrag, und sozusagen selbst entdecken, was gerade daran politisch ist.

Aber was passiert denn eigentlich, wenn du spielst?

Im besten Fall kommt es beim Spielen zu einer Verknüpfung der Seelen: In dem Fall bin ich dann gleichzeitig auch alle andren, für die ich dort stellvertretend spiele. Das hat nichts mit Illusion oder Identifikation mit einer Figur zu tun, vielmehr reflektiert jeder für sich, über den Umweg meines Spiels mit meiner Figur, meiner sich wandelnden Haltung gegenüber dem Spielmaterial, ganz eigenständig über seine Welt und seine eigene Haltung ihr gegenüber. Zu vordergründige Inhalte stören eher dieses Spiel, indem sie davon ablenken, zu Gunsten einer Verlagerung der Interessen auf aufgestellte Thesen oder Modelle. Der therapeutische Befreiungscharakter des Theaters hat aber eher mit dem Entdecken von noch nicht Gewusstem, oder Bewusstem zu tun, als mit der Vermittlung zuvor erkannter Tatsachen und deren Übertragung oder Verschlüsselung in einer dramatischen oder auch postdramatischen Struktur.

Das kann ich natürlich nicht allgemein so hinstellen, sondern nur im Hinblick auf eigene gelebte Erfahrung, in dem Fall die von Selbstbezichtigung von Peter Handke, das ich nun seit zwei Jahren immer wieder spiele und dem besonderen intimen Raum, den es durch die ausschließliche Verwendung von Gemeinplätzen, die allen gehören, zu schaffen weiß.

Selbstbezichtigung“ von Peter Handke, (Foto:Manuela Giusto)

Du meinst, das ist immer noch ein Lehrstück im Sinn Brechts?

Ich glaube schon, denn es macht einem bewusst, was Sprache ist, sein kann. Es wirft einen durch die konkrete Erfahrung auf ein uns alle verbindendes Schema zurück. Diesen Prozess durchlaufen auf aktive Weise alle Teilnehmer an der Aufführung, Zuschauer und Schauspieler auf gleiche Weise, und vor allem beinahe ohne Kontrollfunktion des Bewusstseins, also überraschend und sozusagen wie von selbst.

Und was passiert, wenn du auf der Strasse spielst, ohne diese Möglichkeit zur Konzentration?

Christmas Forever (Foto:Tony Clifton Circus)

Dort kommt der kommunikative Sog aus der Komik, die den Zuschauer immer dann kalt erwischt, wenn er es sich am wenigsten erwartet. Nichts Aufklärerisches, kein Lessing, nur Energie und Lust am fröhlichen Kaputtmachen von vorgefassten Meinungen. Für mich ist das auch ein Lehrstück, aber ich glaube nicht, dass Brecht sich das so vorgestellt hat.

LE PERE NOEL:

Et alors… si vous êtes d’accord avec moi que la liberté est mieux que la merde, alors pour vous tous est arrivé le moment pour que vous compreniez que la liberté a un prix. Et le prix qu’il faut payer est que vous devez… vous devez? … vous devez acheter, chers enfant! Acheter! Et pour pouvoir acheter vous devez avoir une … une?… une carte bleue! Et pour avoir une carte bleue il faut… il faut?… il faut travailler, travailler chers enfants, travailler comme un nègre. Et donc, chers enfants? Donc? Pour être libre il faut acheter et pour pouvoir acheter il faut travailler… donc, chers enfants, donc… le travail…. rend… libre, le travail rend libre… Arbeit macht frei! Chers enfants et la liberté rend immortels. Nous ne mourrons jamais, nous ne mourrons jamais, nous ne mourrons jamais!

(on entend un coup de pistolet et un terroriste masqué crie: Liberté, égalité, fraternité. Le père Noel tombe.)

(Tony Clifton Circus: Christmas forever von)

Erzählst du uns ein wenig vom Fatzer? Wie war das in Turin?

Während der Proben zu Fatzer am Staatstheater in Turin unter der Regie von Fabrizio Arcuri habe ich mal zu einem meiner Schauspielerkollegen gesagt, dass ich mir vorkomme wie organischer Müll, der mal hier und mal dahin geschoben wird und dann dort eine Weile statisch weiterwirken darf. Das war ein sehr interessantes Gefühl von Freiheit, weil man ja nichts machen musste, sondern nur da sein, in einem Rahmen, der seinen Sinn aus dem Zusammenwirken unterschiedlichster Elemente bezog. Das Stück war ein ziemliches Durcheinander unterschiedlichster Spielweisen, aber sehr geschickt organisiert und es hat sozusagen durch den distanzierten Blick des Regisseurs eine eigene Objektivität entwickelt, die einem eine unabhängige Betrachtung des Ganzen ermöglichte. Da war also eine Möglichkeit, diesen ganzen Diskurs, nach dem unsere Zeit ja wirklich hungert, unter die Leute zu bringen. Und dann? Und dann war’s halt doch wieder nur ein als ob, mit vier oder fünf Aufführungen, gerade genug, damit ein paar Kritiker kommen, ein bisschen Ausland und aus war’s. Das macht doch keinen Sinn! Ist aber die Regel, zumindest in Italien. Eine Aufführung braucht Zeit zum Wirken und Wachsen und sie braucht auch einen Bezug zur Wirklichkeit, das heißt sie muss stattfinden, immer wieder, sich langsam durchsetzen vor Ort, gegen Widerstände, gegen Unverständnis. Das wäre meine Idee vom Lehrstück heute in Italien.

Das Schöne am Fatzer ist seine multiple Persönlichkeit, seine gleitende Identität. Eine absolut inkohärente Gedankenführung, wo Individualismusbehauptungen bis hin zur Anarchie, ideologische Gesellschaftsthesen, demagogische Feldzüge, Verhöhnungen aktueller Verhaltensstrukturen, dekadentes In-Sich-Hineinfallen und philosophisch gepanzerte Diskurse problemfrei aufeinanderfolgen. Für eine revolutionäre Anwendung absolut unbrauchbar, dieser Fatzer-Text, das ist wunderbar. Gerade die Tatsache, dass es zu keinem stimmigen Ganzen führt, macht ja genau das Lebendige, das Gefährliche an diesem Text aus. Wenn man diesen Text spielt und dann auf dem Nachhauseweg im Autoradio dieses ständige gutgelaunte Gequassel hört, wird einem erst wieder die Fallhöhe bewusst, die es zu überwinden gilt, um zu irgendeinem wirklichen Dialog zu kommen. Um etwas sagen zu können, was auch etwas meint und nicht nur auf irgendwelchen Meinungen herumsurft, die uns allen ja überall zur Verfügung stehen. Dazu braucht es nämlich eine gewisse Genauigkeit, eine Sprache und eine Form, was vielleicht alles mehr oder weniger das Gleiche meint. Wenn ich drüber nachdenke, hätte ich vielleicht weniger auf starke Bilder gesetzt: kein Feuer, kein explodierendes Auto, kein amerikanisches Kino. Ich misstraue starken Bildern und ziehe überraschende und weniger gefühlsmanipulierend auf die Nervenzentren wirkende Leerräume vor. Unsere Zeit surft und zapped und copy & pasted und sampled und remixed alles durch, was ihr unter die Finger kommt, in einer betäubenden Illusion von Freiheit im Umgang mit allem, was es gibt. Ich glaube aber an die Möglichkeit auch heute noch etwas direkt sagen zu können, ich glaube an die Möglichkeit etwas denken zu dürfen, was nicht schon von vornherein wahnsinnig intelligent daherkommt, in voller Rüstung, und somit im Grunde nichts neues sagt und nichts, aber auch rein gar nichts riskiert.

Dieser Terror vor dem eigenen Risiko ist das, was mir in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, auch in Deutschland, am meisten in die Augen sticht. Ein gigantisches Unterhaltungsprogramm, das den Anschein erweckt, transgressiv und mutig zu sein, aber sich letztendlich nichts zu berühren traut.

Seit Jahren versuche ich in Deutschland ein besonderes Lehrstück auf die Bühne zu bringen: Antonio Tarantinos Materialien für eine deutsche Tragödie. Dort werden italienische Denkmechanismen, zynische Beschreibungsqualitäten und Tonfälle, die aus dem italienischen Volkstheater stammen, dazu benutzt, deutsche Tabudenkschemen aufzubrechen, mittels einer respektlosen Darstellung der Geschehnisse rund um die Schleyer-Entführung und den Tod der Terroristen in Stammheim. Keine Chance, dieser Lehre wollen wir uns in Deutschland nicht unterziehen, da brechen atavistische Ängste durch. Im Herbst 2015 werde ich es dennoch als Lesung auf die Bühne bringen, mitten im Brennpunktkiez Neukölln.

Flyer zur Berliner Aufführung von Antonio Tarantinos „Materialien für eine deutsche Tragödie“

Lehrstück, man hat’s vielleicht kapiert, ist für mich alles, was einen aktiv etwas erfahren lässt: Nicht als passiver Zuschauer, sondern als aktiv denkender und handelnder Mensch, der eigenständig Denkprozesse durchläuft, parallel oder gegenläufig zum Text oder zum Schauspieler, oder auch als Schauspieler selbst. Das ist für mich im Grunde aber nichts, was sich wirklich vom Theater an sich, wenn es denn lebendig und also Theater ist, unterscheidet.

Gegen diesen ganzen Berg an Bedeutung anzurennen ist zwar manchmal etwas frustrierend, aber notwendig. „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ hat mein von der Welt vergessener Freund Herbert Achternbusch das mal genannt.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

 

Sommer 2015, ein Brief zwischendurch.

 

Lieber Clemens,

ich habe deinen Text dann am Sonntag tatsächlich noch gelesen. Dein Zweifel, ob mich das eigentlich interessiert, ist ja wirklich berechtigt. Das Thema interessiert mich schon, du eigentlich auch, ich habe dir ja beim Denken zugesehen, dort am Lago di Como, und habe gesehen, dass die Materie in dir arbeitet und wütet. Trotzdem werde ich mit dem Text nicht warm. Mich würde interessieren, worum es hier wirklich geht. Ob der Brecht das so und so gemeint, oder nicht gemeint hat, wo er sich widerspricht und ob man ihn irgendwie auf ein ideologisches Muster festnageln kann, ist doch wirklich uninteressant.

Es gibt da einen Punkt, wenn du von der Unvereinbarkeit zwischen Denken und Handeln sprichst, dass Handeln das Denken nicht zitieren kann, dass die beiden Formen ohne Analogie und Mimesis auskommen müssen. Das interessiert mich brennend, weil das vom Körper spricht, vom Theater.

Ich glaube dass man sich gar nicht genug vergegenwärtigen kann, dass es sich bei Brechts Texten um Theatertexte handelt, die von lebendigen Menschen gesprochen werden, durch die sie hindurchgehen und von denen sie ständig organisch zersetzt werden.

Ein andrer Punkt, der mich interessiert, ist der zwischen Handeln und gezeigtem Handeln, was ja wirklich nicht dasselbe ist, und dessen Implikationen auf den angestrebten Lernerfolg. Dazu gibt’s ja auch diese schönen Essays von Handke zum Straßentheater, wo er sich mit dem gleichen Thema beschäftigt. Und auch den sehr witzigen Dialog von Platon Ion mit Sokrates und dem Schauspieler, wo ständig die Ebenen verwechselt werden und wo Platon unsere heutige Zeit auf eine sensationelle Weise vorwegnimmt. Es ist dies ein sehr reichhaltiges Terrain für Erfahrung. Das kann man meiner Meinung nach nicht zu vorschnell auf ein Schema wirklich – als ob zurückführen. Die Körper sind nämlich echt und das Denken auch, das kann man nicht vortäuschen, ohne dass es sofort stinklangweilig wird auf der Bühne. Der Unterschied ist nur, dass es halt als sichtbar ausgestellt wird, als Spiel betrachtet wird. Ohne Untermauerung, ohne Behauptung auf Endgültigkeit, als ein nicht geschlossenes, immer prekäres System.

Aber ich weiß ja auch nicht ob dich das überhaupt interessiert…

lieben Gruß

Werner

 

(Brief des Autors an Clemens Härle, der ebenfalls an den Villa-Vigoni-Gesprächen teilgenommen hat und dessen Vortrag in überarbeiteter Form auch in diesem Sammelband abgedruckt ist.)

Herbst 2015, letzte Gedanken zum Thema Lehrstücke

Heute war Klassenkonferenz. Es wurde vorgeschlagen als rituelle Strafmassnahmen für Verspätung beim Unterricht relativ stumpfsinnige Abschreibearbeiten durchzuführen. Für zehn Minuten Verspätung ein Kapitel abschreiben. Ich habe auch zugestimmt, ich bin Elternvertreter. Da habe ich ans Lehrstück gedacht.

Vor ein paar Tagen war ich mit meinen Kindern im ethnologischen Museum in Berlin. Es gab da unter anderem eine Sonderausstellung zum Islam. Vieles kennt man ja schon, manches kann man schon nicht mehr hören und die Burqas im Schaukasten waren auch nicht wirklich interessant, aber plötzlich war da in einer elektronischen Schautafel die schon bekannte aber eben wieder vergessene Info vom Koran, der eigentlich nicht übersetzt werden darf. Wenn man ihn nicht versteht, kein arabisch kann und auch die Schrift nicht kennt, macht es mehr Sinn, sagen sie, die unbekannten Schriftzeichen zu betrachten und dem Laut der unbekannten Sprache zu lauschen, als der Bedeutung und dem Sinn hinterherzurennen. Da habe ich erneut ans Lehrstück gedacht, an den Glauben, der ihm innewohnt, durch das Spielen schematischer Abläufe eine Bewusstseinsveränderung herbeizuführen.

Ja, was hat Brecht eigentlich mit dem Glauben zu schaffen? Er hat ja verschiedene Glaubensbekenntnisse in die Welt gesetzt, z.B. das von der Veränderbarkeit der Welt und auch seine Sprache hat der Bibel viel zu verdanken. Die Sprache ist ja überhaupt das, was mich am meisten bei ihm berührt. Da ist eigentlich schon alles enthalten, was für mich zählt: die Menschwerdung und das unmögliche Sich-Einfügen in ein System aus Zeichen, Werten, der Widerstand der Materie gegen den Geist. Das sprachlich zu erleben, also sozusagen durch den Satzbau, hat etwas Befreiendes. Meine Frage wäre ja, was von den Lehrstücken übrig bliebe, wenn man ihnen ihre spezielle Sprache wegnehmen würde. Also die ganze Theorie beibehalten, aber die Sprache vertauschen, mit einer glatten, sauberen Deutschunterrichtssprache. Das wäre wahrscheinlich der absolute Horror, nicht auszuhalten, Inhaltstheater, Ideologiewahnsinn. Eigentlich ist ja das Scheitern der Lehrstücke an ihrer eigenen Sprache, wie es sich im Fatzer exemplifiziert, das Interessanteste an ihnen.

Um Zeit zum Schreiben dieser Zeilen zu finden habe ich heute meinem Sohn Tobia absagen müssen, mit ihm zum Basketballspiel von Alba Berlin zu gehen. Das Gespräch lief ungefähr so:

W: „Weißt du, ich muss noch einen Text schreiben, zu den Lehrstücken von Brecht. Du weißt ja, wer Brecht ist oder? Der vom Berliner Ensemble.“

T: „Ja, ja, ich weiß. Lehrstücke?“

W: „Ja, das waren Texte fürs Theater, die der Brecht vor mehr als 80 Jahren geschrieben hatte. Die heißen Lehrstücke, weil man, wenn man sie spielt, etwas darüber lernt, wovon sie handeln. Es geht da um so Dinge wie Einverständnis mit den Regeln der Gesellschaft, oder darum, ob der Einzelne mehr Recht hat als die Mehrheit oder umgekehrt, oder ob es richtig ist jemanden zu töten, um mehrere zu retten. Solche Dinge, vielleicht etwas abstrakt…“

T: „Ja, natürlich ist es richtig einen zu töten, wenn man dafür mehrere retten kann.“

W: „Ja? Bist du dir da wirklich sicher?“

T: „ Ja schon, weil einer ja nicht soviel zählt wie viele.“

W: „Und wenn das aber ein ganz besonderer Mensch wäre, der für viele ganz wichtig ist, ein großartiger Arzt, der alle heilen kann und die vielen hingegen nur eine Horde von Verbrechern und nutzlosen und schlechten Menschen wären, was dann?“

T: „Naja, wenn das alles Mörder wären, dann ist es nicht richtig, dass einer stirbt, um sie zu retten, aber wenn sie nur nicht fleißig sind oder faul, dann eigentlich schon. Oder wenn da zum Beispiel fünf Kinder wären, die ich retten könnte, durch meinen Tod, dann würde ich mich zum Beispiel gerne umbringen, um sie zu retten.“

W: „ Bist du dir da sicher? Ich glaube, ich wäre dazu nicht bereit.“

T: „Ja, ich schon. Oder wenn zum Beispiel da ein Alter wäre und auf der anderen Seite ein Kind, dann wäre es richtig, dass der Alte stürbe, denn er hat ja schon gelebt.“

… Und so ging das noch eine halbe Stunde weiter mit: wieso darf man keine Menschen töten, aber Tiere schon und mit den verschiedenen Graden von Bewusstsein von einer Wanze, zu einem Elefant, zu einem Baum bis hin zu einer Möhre usw. usw.

So eine Diskussion zum Beispiel, die wirft mich völlig aus dem Gleis, da weiß ich am Ende überhaupt nichts mehr. Es scheint ja aktuell tatsächlich genügend junge Leute zu geben, die bereit sind, sich umzubringen, um die Welt zu verändern, wenn auch nicht alle aus so noblen Beweggründen wie Tobia. Eines der ‚heißen‘ Diskussionsthemen unseres Seminars in der Villa Vigoni war ja genau die Frage, ob es richtig ist, die rituelle Tötung eines Menschen zu fordern zur Erreichung eines revolutionären Ziels. Ob, wer dies fordert, nun Terroristen oder Nazis oder Staatsmänner oder kommunistische Revolutionäre sind, spielt für mich vorerst keine besondere Rolle. Was mich interessiert ist die Sprache, in der diese Forderung vorgebracht wird, vorgebracht werden kann, ebenso wie die Sprache ihres Gegenübers, des rituellen Opfers, dem natürlich meine ganze Sympathie gilt. Ich zitiere einen Passus aus den Materialien für eine deutsche Tragödie von Antonio Tarantino. Darin begründet der Richter des Bundesverfassungsgerichts Benda im Gespräch mit Eberhard Schleyer die Notwendigkeit der Entscheidung, die Hinrichtung seines Vaters von Seiten der RAF hinzunehmen:

EBERHARD SCHLEYER

Ich bitte Sie nur darum, das Leben meines Vaters zu retten.

BENDA

Natürlich, mein Junge, aber nur indem man die sanktionierende Macht des Staates rettet, ist auch das Anrecht auf das Leben Ihres Vaters gerettet: wenn man hingegen sein Leben retten würde, verschwände jedes Anrecht auf seine persönliche Unversehrtheit eben gerade durch den Verlust der Macht desjenigen, der am Leben bleibt nur, weil er sanktionieren kann und wo es keine Sanktion gibt, kann es weder Bewahren geben, noch Unversehrtheit, noch Leben, sondern nur Tod, jenen Tod, der manchmal eben von demjenigen verlangt wird, der, obwohl er zu Recht lebt, das Anrecht auf die Macht derjenigen töten würde, die nur deshalb leben, weil es Macht gibt und Sanktion und einen Paragraph zwei… Aber wo wollen Sie denn hin… Schreibt Ihnen Ihr Vater immer noch?

(Antonio Tarantino: Materialien für eine deutsche Tragödie)

Auch das ist ein Glaubensbekenntnis und wer es ausspricht, auch ohne daran zu glauben, zementiert dessen Fundament, im Leben, aber eben nicht im Theater, denn Theater hat keinen Wahrheitsanspruch und hat mehr mit Zweifeln zu tun als mit Glauben. Theater ist eine Befreiungsanstalt, keine Erziehungsanstalt. Es ist das exakte Gegenteil von Schule. Seine Lehre, wenn es denn eine solche geben soll, kann nicht a priori bestimmt, sondern höchstens a posteriori herausgefunden werden.

Die Lehrstücke sind eine sehr theorielastige Angelegenheit. Die produzierte Theorie, die ein Vielfaches der eigentlichen Theatertexte ausmacht, kommt der Praxis nicht unbedingt zugute. Aber immer wieder flackert doch ein Interesse auf. Ich habe den Verdacht, dass das mit der geahnten Möglichkeit zu tun hat, dass es dort zu einer Fusion zwischen politischer Aktion und ästhetischer Reflexion kommen könnte, wie sie als Idee manchen revolutionären Utopien innewohnt. Die Gesellschaft für politische Schönheit, Milo Rau, Ai Wei Wei oder vor ihnen streckenweise Schlingensief, Beuys und viele mehr, sie alle haben mit dieser Idee zu tun und treiben sie vorwärts. Nur: wo sind die Dichter?

1 Bertolt Brecht: Theorie der Pädagogien. In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21. Hg. Werner Hecht u.a. Berlin / Weimar / Frankfurt a.M., 1992, S. 398 “Diese Spiele müssen so erfunden und so ausgeführt werden, daß der Staat einen Nutzen hat. […] Aber gerade die Darstellung des Asozialen durch den werdenden Bürger des Staates ist dem Staate sehr nützlich, besonders wenn sie nach genauen und großartigen Mustern ausgeführt wird.“