Februar 2015, Villa Vigoni, ein Impulsreferat
Liebe Seminarteilnehmer,
mein Vater war Lehrer. Meine Mutter auch. Ich habe ein Pädagogentrauma. Wenn ich eine Schule betrete, habe ich noch heute ein ungutes Gefühl. Wenn Brecht in seinem Text zur Theorie der Pädagogien vom „Nutzen für den Staat […] durch den werdenden Bürger“ spricht1, bekomme ich Gänsehaut. Die Universität habe ich nach der Zwischenprüfung abgebrochen, weil ich ein Sinnproblem hatte mit dem Gelehrten. Ja, und jetzt stehe ich da und soll meine Meinung zum Lehrstück sagen.
Ich habe keine kohärente Meinung zum Lehrstück.
Brecht Camp, Turin (Foto: Portage)
Vor zwanzig Jahren habe ich mich an Der Jasager und Der Neinsager versucht, in Cagliari. Es ging mir darum mit den Schauspielschülern eine Theaterarbeit zu leisten, bei der sich nicht alles ums Theater dreht und wie man ein berühmter Schauspieler wird, sondern um die Wirklichkeit, um Haltungen, um ein draußen, das im Theater reflektiert werden sollte. Aber es gelang uns nicht in dem Text Wirklichkeit zu finden. Es war ein eher peinliches Scheitern, ohne Schönheit und auch ohne interessante Gedanken. Es war ein Gefühl wie in der Schule, wenn man etwas mechanisch übt, ohne zu wissen, worum es dabei wirklich geht, aber man macht es trotzdem, nur eben ohne Überzeugung. Wahrscheinlich ging es damals um fundamentale Denkfehler: Was ist Wirklichkeit? Was ist Leben? Was ist Theater? Was ist Haltung? Was ist Aktion?
Fünfzehn Jahre später arbeitete ich in Lecce an einem sehr utopischen Projekt, namens Manifatture Knos, das sich der Wiederentdeckung des Selbstgemachten verschrieben hatte. Eine ehemalige Fabrik, in der Handwerker und Geistesmenschen in engem Kontakt miteinander arbeiteten. Ich war dort mit Lea Barletti für den Theaterbereich zuständig und wollte in dem Zusammenhang das Theater und seine soziale Funktion neu erfinden und überprüfen, ohne den schützenden Schirm der Tradition. Unsere Spielzeit hatte den Titel „Wozu braucht es Theater?“ und ging von der These aus, dass, wenn keiner das Theater braucht, es wohl besser ist, wenn es verschwindet, als künstlich am Leben erhalten zu werden. Es gab dort einen Raum, den wir Theater nannten und den ich jeden Abend für zwei Stunden geöffnet habe, damit er seine Funktion als Spiegelraum des Tageswerks, als Forum sozialer Selbstbetrachtung ausüben könne. Was dort geschehen sollte, war allerdings niemandem so richtig klar. Ich habe bewusst darauf verzichtet Programm, Texte, Szenen anzubieten, weil mich ja interessierte, welchen Nutzen die kleine Gesellschaft, die wir darstellten, aus diesem Raum der Möglichkeiten zu schlagen wisse, welchen Defiziten des Lebens er entgegenkommen könnte. Also wurden dort manchmal Texte gelesen, Vorfälle des Tags auf der Bühne erzählt oder nachgestellt, manchmal haben wir gesungen, manchmal hatte auch ein Handwerker oder Künstler zuhause eine Szene geschrieben und sie dort vorgestellt, Wissenschaftler kamen auf die Bühne und haben versucht dem Publikum Theorien im Bereich der Nanotechnologie nahezubringen, meistens gab es einen Mix aus mehreren Elementen, natürlich auch viel Leerlauf, aber Sinn hatte dieses ‚Theater‘ für jene Minigesellschaft allemal.
Manifatture Knos (Foto:Maurizio Buttazzo)
Eins von den ‚Lehrstücken‘, darum handelte es sich nämlich meiner Meinung nach, für das Publikum und auch für mich, die sich dort abspielten, war als mein damals 8jähriger Sohn Rocco und sein Freund Ernesto zufällig auch mit von der Partie waren. Ich bat sie auf die Bühne zu gehen und von dort aus Fragen, die aus dem Publikum an sie gestellt wurden, zu beantworten. Es kamen Fragen zum Geld, zur Wirtschaft, zum Sinn von Arbeit, auf welche die beiden Jungen mit Ernsthaftigkeit und offener Ehrlichkeit antworteten, während sie sich auf der Suche nach einem eigenen Gedanken zu einem für sie unerwarteten Thema zusehen ließen, absolut entwaffnend.
Das war eins meiner interessantesten Theatererlebnisse, die dem Brechtschen Philosophen auf dem Theater sehr nahe kam.
Darauf aufbauend möchte ich gerne mit Ihnen zusammen hier ein Experiment durchführen. Ich habe meinen Beitrag „Die Lehrstücke aus der Subjektive“ genannt und möchte diese Subjektive gern möglichst ungeschützt über uns ergehen lassen. Deshalb wollte ich Sie bitten, mich während der Dauer meines Vortrags möglichst häufig zu unterbrechen und mir intelligente oder auch dumme Fragen zu stellen, auf die ich dann mit größtmöglicher Ehrlichkeit und Spontaneität Antwort zu geben versuche. Sollten keine Fragen von Ihnen kommen habe ich mir selber welche zurechtgelegt.
Glaubst du, dass die Welt heute über das Lehrstück beschreibbar ist?
In Berlin arbeite ich seit zwei Jahren in Nordneukölln in dem Verein ItzBerlin e.V., der in der theaterpädagogischen Schiene beheimatet ist und wo man versucht durch Theaterspielen mit Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, kulturelles Wachstum und eine Verbesserung des sozialen Kontextes zu bewirken. Dafür wird der Verein vom BaMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) gefördert. Leider muss ich feststellen, dass es für mich einfacher ist, besagte Ziele über einen Workshop in handwerklichen Tätigkeiten, z.B. Schreinern, zu fördern, als durch Theater. Es ist eine Welt, die fast ohne Sprache abläuft, eine Welt aus obsessivem Imponiergehabe, physischer Gewalt der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Eine Welt ohne Stille, ohne Konzentrationsvermögen, ohne Aufmerksamkeit, eine Welt ohne sichtbare Zeichen, zumindest für mich, der Liebe, der Zuneigung, der Behutsamkeit. Andrerseits ist es ein Fakt, dass wir praktisch nichts wissen von dieser parallelen Welt, zu deren kulturellen Sanierung wir mit massiven Investitionen von Seiten der Politik ständig aufgerufen werden. Unser Bild ist wertend und verurteilt ständig von oben herab eine Realität, die uns verstellt ist.
Meine Präsenz in diesem Rahmen als Künstler, der nichts besser weiß, dem diese Realität ins Herz schneidet, dem sie Angst macht, der sich nicht in irgendeinen behüteten Schutzraum zurückziehen will, sondern sich ständig aussetzt, ist ein ständiges gelebtes ‚Lehrstück‘, ohne Zuschauer, dessen Finale und auch Moral bis zuletzt ungewiss ist.
Konstruktion der Bühne im Hausergarten des Itz, Berlin Neukölln (Foto: Lea Barletti)
Was erwartest du dir von dieser Tagung für Deine Arbeit?
Ich erwarte mir von dieser Tagung nicht zuletzt auch Impulse, die aufzeigen, welche Art von Lehrstücken wir für unsre Welt brauchen. Meine Erfahrung zeigt mir, dass heute alles in streng geteilten Bereichen abläuft, es gibt keinerlei Durchmischung. Ich glaube nicht, dass ein Text, der auf einer rein inhaltlichen Ebene Verhaltensmodelle aufzeigt und untersucht, in so einem Rahmen wirklich greifen kann. Es müssen Rituale entwickelt werden, in denen Leute spielerisch zueinander kommen, ohne Lehrauftrag, und sozusagen selbst entdecken, was gerade daran politisch ist.
Aber was passiert denn eigentlich, wenn du spielst?
Im besten Fall kommt es beim Spielen zu einer Verknüpfung der Seelen: In dem Fall bin ich dann gleichzeitig auch alle andren, für die ich dort stellvertretend spiele. Das hat nichts mit Illusion oder Identifikation mit einer Figur zu tun, vielmehr reflektiert jeder für sich, über den Umweg meines Spiels mit meiner Figur, meiner sich wandelnden Haltung gegenüber dem Spielmaterial, ganz eigenständig über seine Welt und seine eigene Haltung ihr gegenüber. Zu vordergründige Inhalte stören eher dieses Spiel, indem sie davon ablenken, zu Gunsten einer Verlagerung der Interessen auf aufgestellte Thesen oder Modelle. Der therapeutische Befreiungscharakter des Theaters hat aber eher mit dem Entdecken von noch nicht Gewusstem, oder Bewusstem zu tun, als mit der Vermittlung zuvor erkannter Tatsachen und deren Übertragung oder Verschlüsselung in einer dramatischen oder auch postdramatischen Struktur.
Das kann ich natürlich nicht allgemein so hinstellen, sondern nur im Hinblick auf eigene gelebte Erfahrung, in dem Fall die von Selbstbezichtigung von Peter Handke, das ich nun seit zwei Jahren immer wieder spiele und dem besonderen intimen Raum, den es durch die ausschließliche Verwendung von Gemeinplätzen, die allen gehören, zu schaffen weiß.
„Selbstbezichtigung“ von Peter Handke, (Foto:Manuela Giusto)
Du meinst, das ist immer noch ein Lehrstück im Sinn Brechts?
Ich glaube schon, denn es macht einem bewusst, was Sprache ist, sein kann. Es wirft einen durch die konkrete Erfahrung auf ein uns alle verbindendes Schema zurück. Diesen Prozess durchlaufen auf aktive Weise alle Teilnehmer an der Aufführung, Zuschauer und Schauspieler auf gleiche Weise, und vor allem beinahe ohne Kontrollfunktion des Bewusstseins, also überraschend und sozusagen wie von selbst.
Und was passiert, wenn du auf der Strasse spielst, ohne diese Möglichkeit zur Konzentration?
Christmas Forever (Foto:Tony Clifton Circus)
Dort kommt der kommunikative Sog aus der Komik, die den Zuschauer immer dann kalt erwischt, wenn er es sich am wenigsten erwartet. Nichts Aufklärerisches, kein Lessing, nur Energie und Lust am fröhlichen Kaputtmachen von vorgefassten Meinungen. Für mich ist das auch ein Lehrstück, aber ich glaube nicht, dass Brecht sich das so vorgestellt hat.
LE PERE NOEL:
Et alors… si vous êtes d’accord avec moi que la liberté est mieux que la merde, alors pour vous tous est arrivé le moment pour que vous compreniez que la liberté a un prix. Et le prix qu’il faut payer est que vous devez… vous devez? … vous devez acheter, chers enfant! Acheter! Et pour pouvoir acheter vous devez avoir une … une?… une carte bleue! Et pour avoir une carte bleue il faut… il faut?… il faut travailler, travailler chers enfants, travailler comme un nègre. Et donc, chers enfants? Donc? Pour être libre il faut acheter et pour pouvoir acheter il faut travailler… donc, chers enfants, donc… le travail…. rend… libre, le travail rend libre… Arbeit macht frei! Chers enfants et la liberté rend immortels. Nous ne mourrons jamais, nous ne mourrons jamais, nous ne mourrons jamais!
(on entend un coup de pistolet et un terroriste masqué crie: Liberté, égalité, fraternité. Le père Noel tombe.)
(Tony Clifton Circus: Christmas forever von)
Erzählst du uns ein wenig vom Fatzer? Wie war das in Turin?
Während der Proben zu Fatzer am Staatstheater in Turin unter der Regie von Fabrizio Arcuri habe ich mal zu einem meiner Schauspielerkollegen gesagt, dass ich mir vorkomme wie organischer Müll, der mal hier und mal dahin geschoben wird und dann dort eine Weile statisch weiterwirken darf. Das war ein sehr interessantes Gefühl von Freiheit, weil man ja nichts machen musste, sondern nur da sein, in einem Rahmen, der seinen Sinn aus dem Zusammenwirken unterschiedlichster Elemente bezog. Das Stück war ein ziemliches Durcheinander unterschiedlichster Spielweisen, aber sehr geschickt organisiert und es hat sozusagen durch den distanzierten Blick des Regisseurs eine eigene Objektivität entwickelt, die einem eine unabhängige Betrachtung des Ganzen ermöglichte. Da war also eine Möglichkeit, diesen ganzen Diskurs, nach dem unsere Zeit ja wirklich hungert, unter die Leute zu bringen. Und dann? Und dann war’s halt doch wieder nur ein als ob, mit vier oder fünf Aufführungen, gerade genug, damit ein paar Kritiker kommen, ein bisschen Ausland und aus war’s. Das macht doch keinen Sinn! Ist aber die Regel, zumindest in Italien. Eine Aufführung braucht Zeit zum Wirken und Wachsen und sie braucht auch einen Bezug zur Wirklichkeit, das heißt sie muss stattfinden, immer wieder, sich langsam durchsetzen vor Ort, gegen Widerstände, gegen Unverständnis. Das wäre meine Idee vom Lehrstück heute in Italien.
Das Schöne am Fatzer ist seine multiple Persönlichkeit, seine gleitende Identität. Eine absolut inkohärente Gedankenführung, wo Individualismusbehauptungen bis hin zur Anarchie, ideologische Gesellschaftsthesen, demagogische Feldzüge, Verhöhnungen aktueller Verhaltensstrukturen, dekadentes In-Sich-Hineinfallen und philosophisch gepanzerte Diskurse problemfrei aufeinanderfolgen. Für eine revolutionäre Anwendung absolut unbrauchbar, dieser Fatzer-Text, das ist wunderbar. Gerade die Tatsache, dass es zu keinem stimmigen Ganzen führt, macht ja genau das Lebendige, das Gefährliche an diesem Text aus. Wenn man diesen Text spielt und dann auf dem Nachhauseweg im Autoradio dieses ständige gutgelaunte Gequassel hört, wird einem erst wieder die Fallhöhe bewusst, die es zu überwinden gilt, um zu irgendeinem wirklichen Dialog zu kommen. Um etwas sagen zu können, was auch etwas meint und nicht nur auf irgendwelchen Meinungen herumsurft, die uns allen ja überall zur Verfügung stehen. Dazu braucht es nämlich eine gewisse Genauigkeit, eine Sprache und eine Form, was vielleicht alles mehr oder weniger das Gleiche meint. Wenn ich drüber nachdenke, hätte ich vielleicht weniger auf starke Bilder gesetzt: kein Feuer, kein explodierendes Auto, kein amerikanisches Kino. Ich misstraue starken Bildern und ziehe überraschende und weniger gefühlsmanipulierend auf die Nervenzentren wirkende Leerräume vor. Unsere Zeit surft und zapped und copy & pasted und sampled und remixed alles durch, was ihr unter die Finger kommt, in einer betäubenden Illusion von Freiheit im Umgang mit allem, was es gibt. Ich glaube aber an die Möglichkeit auch heute noch etwas direkt sagen zu können, ich glaube an die Möglichkeit etwas denken zu dürfen, was nicht schon von vornherein wahnsinnig intelligent daherkommt, in voller Rüstung, und somit im Grunde nichts neues sagt und nichts, aber auch rein gar nichts riskiert.
Dieser Terror vor dem eigenen Risiko ist das, was mir in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, auch in Deutschland, am meisten in die Augen sticht. Ein gigantisches Unterhaltungsprogramm, das den Anschein erweckt, transgressiv und mutig zu sein, aber sich letztendlich nichts zu berühren traut.
Seit Jahren versuche ich in Deutschland ein besonderes Lehrstück auf die Bühne zu bringen: Antonio Tarantinos Materialien für eine deutsche Tragödie. Dort werden italienische Denkmechanismen, zynische Beschreibungsqualitäten und Tonfälle, die aus dem italienischen Volkstheater stammen, dazu benutzt, deutsche Tabudenkschemen aufzubrechen, mittels einer respektlosen Darstellung der Geschehnisse rund um die Schleyer-Entführung und den Tod der Terroristen in Stammheim. Keine Chance, dieser Lehre wollen wir uns in Deutschland nicht unterziehen, da brechen atavistische Ängste durch. Im Herbst 2015 werde ich es dennoch als Lesung auf die Bühne bringen, mitten im Brennpunktkiez Neukölln.